Quelle: RGA-Online von Theresa Demski
2018 gründete sich unter dem Dach der Kirchengemeinde ein Ensemble für die Hirtenflöte.
In den vergangenen Monaten kam es vor, dass sich unter die bekannten Töne in der Evangelischen Stadtkirche ungewöhnliche Klänge mischten. Sie waren unaufdringlich und sanft, zauberten Fülle und Ruhe. Wer dann genau hinsah, kam noch mehr ins Staunen. Denn diese weichen, ungewohnten Töne suchten sich aus spitzen Tierhörnern ihren Weg unter das Dach des Gotteshauses – aus Gemshörnern.
„Manchmal stelle ich mir vor, wie den Hirten am Feuer langweilig wurde und weil sie eben nur die Hörner ihrer Tiere zur Verfügung hatten, begannen sie, auf ihnen zu musizieren“, sagt Andreas Fehlhauer und greift zu dem großen Gemshorn, das er gerade aus dem Beutel gefischt hat. Er bläst vorsichtig an und schon taucht wieder dieser tiefe, warme Ton auf, der Konzertbesuchern in der Stadtkirche seit vergangenem Jahr immer mal wieder auffällt.
Die tiefen Töne des Bass-Horns beruhigen schon beim Üben
Während er noch spielt, mischt sich ein frecher, heller Ton dazwischen. „Höher geht nicht“, sagt Jutta Benedix und stellt die Sopranino vor. Das kleinste unter den Gemshörnern – und das hellste. „Sie klingt besonders schön beim Hosianna“, sagt Jutta Benedix und erinnert sich an Auftritte in den Adventswochen. Die meiste Zeit greift aber auch sie lieber zu dem Bass-Horn. „Diese tiefen Töne beruhigen“, sagt sie, „das genieße ich schon beim Üben Zuhause.“ Und genau diese tiefen Töne, das Instrument ohne Firlefanz, dazu Form und Material: Sie machen die Faszination des Gemshorns aus.
Auch für Julia Regina Schott. Als sie das Instrument vor ein paar Jahren für sich entdeckte, ging ihr der Klang nicht mehr aus dem Kopf – oder aus dem Herzen. Also bestellte sie kurzerhand ein Instrument, lernte, dass es nicht wirklich von der Gämse, sondern von einer namibischen Ziege stammt, und begann zu spielen: „Im Grunde muss man nicht viel können“, sagt sie. Sie habe nie Blockflöte gespielt, aber das Instrument trotzdem schnell beherrscht. „Es reicht, Noten lesen zu können“, sagt sie.
„Sie hat uns damals mit ihrem neuen Instrument dauernd in den Ohren gelegen“, erinnert sich Detlef Kock lachend, der inzwischen selbst das Gemshorn spielt. Das Instrument – und Julia Regina Schott – steckten an.
Schnell fanden sich Musiker in Halver und Wermelskirchen, die sich zusammensetzten und zu spielen begannen. Inzwischen spielen sie mit acht Stimmen, zwei komplette Chöre – vom Sopran bis zum Bass. Kantor Andreas Pumpa hat das Dirigat übernommen.
„Weil das Instrument selbst aus dieser Zeit stammt, eignet es sich besonders gut für Musik aus der Renaissance.“
Andreas Pumpa, Kantor
„Weil das Instrument selbst aus dieser Zeit stammt, eignet es sich besonders gut für Musik aus der Renaissance“, sagt er. Ohnehin haben in dem Ensemble fast alle ein Faible für Alte Musik. Lieder, die man sich als Chor gar nicht mehr zutraue, könnten mit dem Gemshorn wieder erklingen, sagt Jutta Benedix. „Aber auch zu irischer Folklore passen die Töne“, ergänzt Julia Regina Schott.
Nach anderthalb Stunden packen die Ensemble-Mitglieder ihre Gemshörner ein. „Man muss sie noch nicht mal auswischen“, sagt Stephanie Kock lachend, „man könnte es auch gar nicht.“ Denn das Gemshorn ist geschlossen, was Fachleute auch „gedackt“ nennen. Dass die Instrumente lange in ihren Beuteln bleiben, ist allerdings unwahrscheinlich. Denn das Gemshorn-Ensemble hat Feuer gefangen.
TIERHÖRNER
GESCHICHTE Das Gemshorn wurde vor allem im Mittelalter bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts gespielt. Originale aus dieser Zeit sind allerdings nicht erhalten. Instrumentenbauer haben das neue Gemshorn deshalb alten Zeichnungen nachempfunden.
TONHÖHE Der Tonumfang des Gemshorns ist deutlich kleiner als der der Blockflöte: Weil ein Überblasen nicht möglich ist, kann kaum mehr als eine Oktave mit dem Instrument gespielt werden. Blockflöten, die ähnlich tiefe Töne erzeugen, sind sehr groß und unhandlich.